„Ich bin, was ihr nicht sehen wollt – Erinnerungen einer Systemsprengerin“ „Verdunklungsgefahr – Eine afrikanisch-diasporische Geschichte zwischen Ostpreußen & Ghana, in Deutschland, - alles nur eine Erinnerung?“

Ich bin nicht Müller. Ich war nicht zu wild. Ich war lebendig, in einem System, das mich still haben wollte. Mein Name ist nicht Müller. Mein Name ist eine Lücke in euren Formularen. Aber ich fülle sie jetzt – mit meinem ganzen Sein. Man sagte mir, ich dürfe den Namen meines Vaters nicht tragen. Begründung: Verdunklungsgefahr oder Entführungsgefahr (nur das Universum weiß, wie sehr ich betete, in die Dunkelheit zu kommen, oder gar von meinem Vater entführt zu werden.) - Kinder Realitäten... Verdunklungsgefahr. Ein Wort wie ein Urteil. Ein Wort, das mich spalten sollte. Nicht nur von meinem Vater und meiner Identität – sondern von mir selbst.

Kapitel 1 – Die Konstruktion von Deutschsein

Meine weiße Mutter war meine erste Konfrontation mit der Widersprüchlichkeit dieses Systems. Sie wollte dazugehören, mit aller Kraft. Ihr Leben lang kämpfte sie gegen das Gefühl, fremd zu sein – und überschrieb es mit dem Wunsch, anerkannt zu werden. Das wurde ihr Antrieb. Das wurde ihre Alptraum Endlosschleife. Aber ich? Ich war ein Störfaktor. Ihre Mutterrolle wurde zur Bühne. Ihre Liebe: wechselhaft bis undurchsichtig, manipulativ, durchzogen von Angst und Kontrolle. Ich hatte Todesangst vor ihr. Wirklich. Nächte voller Schreie, Gewalt gegen mich und meinen Bruder , weil er sich übergab, oder ich mich eingenässt hatten (Anzeichen von psychischer „Stresssituation“ ), weil sie uns zu allem zwang und körperlich misshandelte. Und ich, am Fußende des Bettes, eingerollt unter der Decke, um zu überleben. Ich hatte gelernt: wenn ich nicht gesehen werde, wenn ich kaum atme, bin ich sicher. In den ganz frühen Jahren dachte ich – wenn ich blinzele, dann zeigen weiße Menschen, inmeinem Umfeld, ihr wahres Gesicht. Und das Gesicht war Monster. Ich wusste nicht, dass ich Schwarz war, nicht dass sie weiß war – aber ich spürte: irgendetwas ist hier falsch. Ich blieb wach, bis alle schliefen. Erst dann konnte ich schlafen. Meine Mutter hat mir beigebracht, weiße Frauen zu erkennen. Nicht nur als Mütter – sondern als Mechanismus. Als Aufrechterhalterinnen. Als diejenigen, die „für Frauenrechte kämpfen“, aber mich nicht mitmeinen. Die sich über Sexualisierung durch Männer beklagen, aber mir ungefragt Nähe aufzwingen, mich küssen, mich bemuttern wollen – ohne meine Geschichte zu kennen. Ich nenne das: Paternalismus-Allergie. Ich bin keine Projektionsfläche für euer Schuldgefühl. Keine Empfängerin eures Retterkomplexes. Ich will keine Mutterrolle, um die ich nie gebeten habe. Ich will nicht „integriert“ werden in ein Leben, das mich nie eingeladen hat. Meine Mutter überlebte durch Narzissmus. Ich überlebte durch Wachheit. Und heute – erkenne ich euch. Ihr seid nicht unsichtbar. Zitat: von der kleinen Yvonne Müller, die es fast nicht mehr gibt! „Wenn ich die Augen zu mache, sehe ich sie. Die echten Gesichter. Nicht wie am Tag – da tun sie lieb. Aber in der Dunkelheit, im Schatten zeigen sie es. Dann werden sie zu Monstern. Ich muss wach bleiben. Damit sie mich nicht finden. Ich bin unter der Decke – da bin ich sicher. Am Ende vom Bett. Da schlägt sie nicht hin.“_ – Ich, sechs Jahre alt, auf der Flucht in meiner eigenen Kindheit.

Kapitel 2 – Mein Vater, mein Name, mein Verbot

Mein Vater hieß Ocran. Ein Name, den kaum jemand aussprechen wollte. Ein ghanaischer Name, getragen mit Stolz, mit Geschichte, mit Schmerz. Ein Name, der nicht ins deutsche System passte. Zu viel Identität. Zu viel Afrika. Er war ein Gestrandeter seiner selbst, ein Mann, der nach Europa kam, um etwas aufzubauen, was für ihn unmöglich schien, zu Hause in Ghana, war: ein Zuhause, Liebe, Selbstwert. Meine Geburt hätte all das verändern sollen. Vielleicht glaubte er das. Vielleicht lastet es auf mir. Wie kann jemand Liebe schenken, der nie gelernt hat, sich selbst zu lieben? Mein Vater hat mich missbraucht – emotional, körperlich, existenziell. Ich war 14, als ic ihn suchte und auch fand... Er nannte es Liebe. Ich nannte es Sehnsucht. Später nannte ich es, was es war: Missbrauch. Er war Alkoholiker. Er baute sich Welten, in denen er fliehen konnte. Und ich wurde ein Teil davon – ein Schatten in seinem inneren Film. Traumatisiert, verstummt, verwirrt. Mein Systemsprengen wurde lauter. Mein Nein wurde stärker. Ich wollte nicht mehr funktionieren. Ich wollte verschwinden. Ich floh. Auch vor dem letzten Gespräch. Auch vor seiner Stimme am Telefon, die leise wurde, weich, fast menschlich. Er bat mich, ihn zu besuchen. Irgendetwas in mir wusste, dass das wichtig war. Aber ich war nicht bereit. Ich versprach beiläufig, vorbeizukommen. Ich fühlte es nicht. Zwei Wochen später war er tot. Allein. In seinem Bett. Einsam, wie ich es all die Jahre an seiner Seite war, ohne ihn je ganz zu haben oder kennen. War das Karma? War das Konsequenz? Ich weiß nur: Seither lese ich genauer. Menschen, Blicke, Zwischentöne. Ich weiß, dass jede Entscheidung ein Echo trägt. Und manchmal ist das Echo ein Grab. Ich beantragte 2004, seinen Namen anzunehmen. Endlich. Ocran – mein Name. Mein Ursprung. Mein Zuhause. Doch der Antrag wurde abgelehnt. Begründung: Verdunklungsgefahr. Verdunklungsgefahr – für wen? Für die Klarheit deutscher Papiere? Für das fragile Selbstbild einer Gesellschaft, die Herkunft als Problem behandelt? Mein Name ist nicht Müller. Müller ist ein Mantel, der nie passte. Mein Name ist Ocran. Und er hätte mich wachsen lassen können.

Kapitel 3 – Systemsprengerin wider Willen

Ich war ein Kind, das ihr nicht verstehen wolltet. Ich funktionierte, obwohl ich innerlich längst verschwunden war. Ich sprach, obwohl meine Stimme nicht bei mir war. Ich war brav, still, angepasst – bis ich es nicht mehr sein konnte. Dann wurde ich „auffällig“. Dann wurde ich „aggressiv“. Dann war ich plötzlich: Systemsprengerin. Nicht, weil ich das System zerstören wollte – sondern weil es mich nie halten konnte. Alles, was ich bin – meine Stimme, meine Bewegungen, meine Tränen, meine Stille – wurde zu oft als „zu viel“ gelesen. Als Aggression. Als Auflehnung. Als Störung. Aber meine Rebellion war nie gegen das Leben gerichtet. Sie war ein verzweifelter Ruf nach Leben. Ich wurde nicht geboren, um zu sprengen – ich wurde geboren, um zu überleben. Meine Existenz war ein Widerspruch in einer Welt, die vorgibt, neutral zu sein – und dabei alle ausblendet, die ihr nicht ähneln. Ich falle aus jeder Norm: aus der von Kleidergrößen, aus der von Erwartungen, aus der von familiären Konstrukten. Mein Geschmack, meine Bedürfnisse, mein Rhythmus – alles schien nicht vorgesehen zu sein. Ich trage zwei mächtige Kulturen in mir. In meinem Blut fließt das Echo königlicher Ahnen aus Ghana, ebenso wie der Staub preußischer Felder und masurischer Seen. Und doch stehe ich hier – nicht auf einem Thron, sondern auf Scherben und Trauma. Scherben aus Nicht-Beachtung. Aus Leugnung. Aus Entfremdung. Ein Erbe, das nicht goldglänzend, sondern wund ist. Ich habe keine Anleitung für dieses Erbe bekommen, nur Fragmente: zerrissene Geschichten, schmerzvolle Blicke, institutionelle Mauern. Ich wollte verstehen – wer ich bin, wo ich hingehöre, was von mir bleibt, wenn ich niemandem mehr gefallen muss. Ich wollte zurück – nach Afrika. Nicht, um zu fliehen, sondern um mich zu erinnern. Ich wollte alles sein, was Kant und seine Freunde mir absprachen: fähig zur Vernunft, zur Würde, zur Selbstbestimmung. Ich wollte nicht mehr nur Projektionsfläche sein – ich wollte Mensch sein. Ich will mein Erbe antreten – nicht nur das Trauma, sondern auch die Stärke. Die Würde. Das Recht auf Glück. So wie jeder andere auch. Doch wie, wenn alle lügen? Wenn sie leugnen? Wenn sie weiter ausbeuten? In den Heimen, in denen ich lebte, musste ich selbst entscheiden, was gut für mich ist. Niemand zeigte mir das große Ganze. Keine*r bereitete mich auf das Leben vor – auf meine Rolle in einer Gemeinschaft, auf Rechte, auf Würde. Es war kein Aufwachsen, sondern ein Verletzlichkeitsmarathon. Gefühle wurden expandiert, Schmerzen analysiert. Und währenddessen wurde mitgeschrieben, dokumentiert, seziert. Psychotherapeut*innen sagten mir: „Du hast eben eine besondere Fähigkeit, dich selbst zu heilen.“ Oder sie sprachen über meine Haare, als wäre das das einzige Positive, das sie sehen konnten. Oder sie sagten: „Manche Menschen haben einfach kein leichtes Leben. Damit muss man sich abfinden.“ Aber ich wollte mich nie abfinden. Ich wollte wissen: Wo sind all diese Daten hin? Diese Berichte über mein Innenleben? Wer besitzt mein Schweigen? Ich bin keine Systemsprengerin. Ich bin das, was übrig bleibt, wenn das System bricht – nicht ich.

Kapitel 4 – Sehnsucht nach einer Sprache, die mich heilt

Ich suchte nach einer Sprache, die mich sieht. Die mich hört. Die mich heilt. Nicht nur Worte – sondern Geborgenheit. Eine Zugehörigkeit, die nicht an Bedingungen geknüpft ist. Ich suchte Heimat, Sicherheit, Erkennen – aber über drei Jahrzehnte lang sehnte ich mich nach einem Ort, der gar nicht wusste, dass es mich gibt. Ich suchte mich selbst in meiner Stadt. In Menschen, die so aussahen wie ich. Doch schnell wurde klar: Die sogenannten „Immigranten“ waren mir näher als jedes Heim, jede Behörde, jede Familie, in die ich hineingeboren wurde. Als ich das erste Mal Fufu aß, reagierte nicht nur mein Gaumen, sondern meine Seele. Endlich ein Geschmack, der meinem Körper vertraut war – nicht wie der Kartoffelbrei, den ich einst selbst stampfte, der aber nur Bauchweh brachte. Ich hätte mir gewünscht, dass jemand früher sagte: „Du musst keine Milch trinken, wenn dein Körper sie nicht verträgt.“ Oder: „Du darfst deine Haare lang tragen – es gibt Produkte, die sie pflegen.“ Aber niemand sagte das. Ich schnitt meine Haare immer wieder kurz – nicht aus Freiheit, sondern aus Resignation. Das erste Mal, dass ich mich gesehen fühlte, war beim Friseur. Ein afrikanischer Friseur aus Nigeria – er sprach meine Sprache, ohne dass ich sie kannte. Ich hatte viele nigerianische Freunde, Onkel und Tanten, die „das verlorene Kind“ aufnahmen, als sei ich eine von ihnen. Sie zeigten mir, wie man Suppen kocht, wie man Haare flicht, wie man Würde lebt. Ich lernte Englisch nicht in der Schule – ich lernte es in Wohnzimmern, an Straßenecken, in Lachen, das wie meins klang. Meine Lehrerin konnte mich nicht leiden – sie fühlte sich von mir bedroht. Vielleicht, weil ich zu echt war. Vielleicht, weil ich ihr zeigte, dass ihre Welt nicht vollständig war. Einmal, als ich grün und blau geschlagen wurde und nicht mehr nach Hause wollte, brachte sie mich in Obhut. Es war das einzige Mal, dass sie freundlich war. Alles andere baute ich mir selbst. Mit elf Jahren schuf ich mein erstes eigenes Sicherheitsnetzwerk. In Deutschland gab es nichts, was mich nährte. Kein Haus, kein Heim, keine Klinik, keine Schule, keine Familie, keine Straße, in der mein Leben als lebenswert gelesen wurde. Bis ich elf war, sprach niemand in meinem Umfeld Englisch. Ich hatte eine einzige Schwester. Wir wurden getrennt, wuchsen in völlig verschiedenen Welten auf. Ihre Mutter war Schwarz – ich war einmal zu Besuch und weinte danach tagelang. Ich lernte: Dieses Land sieht dich nicht – es versucht dich zu erziehen, zu disziplinieren, zu schlucken. Ich lernte Widerstand. Früh. Denn wenn ich all diese Lügen ins Herz gelassen hätte, wäre ich heute nicht mehr hier. Heute, nach etlichen besuchen in Senegal, weiß ich: Kein Kurort im Schwarzwald, keine Klinik in Bad Salzuflen kann meine Wunden heilen. Weil Heilung keine Reha ist. Heilung ist Erinnerung, Zugehörigkeit, Erdung. Ich habe nicht nur eine Allergie gegen weißen Feminismus – ich habe eine tief verankerte Angst vor Ärzt*innen. Die Medizin, die mich je berührt hat, war keine westliche – sie war organisch, indigen, gemeinschaftlich. Und dann kam Ghana. Ich hatte so lange Angst, meine Wurzeln zu berühren. Vielleicht, weil ich wusste, dass es weh tun würde. Vielleicht, weil ich mich zu lange für meine Sehnsucht geschämt hatte. Aber irgendwann ging ich los. Ich fand meine Tante, meinen Bruder, meine Schwester – in Accra, in Gesprächen, in Blicken. Sie gaben mir Nahrung – für meinen Magen und für meine Seele. Ich begann zu verstehen: Das, was ich trage, ist nicht nur Trauma, sondern auch Erbe. Auch Macht. Auch Kontinuität. Ich trat ein in eine koloniale Geschichte, die nicht vorbei ist – aber ich fand dort Werkzeuge, die ich in Deutschland nie bekam. Werkzeuge, die mir erlauben, mein eigenes System zu bauen. „Ich dachte immer, ich bin kaputt. Aber vielleicht war ich einfach nicht für diese Welt gemacht – sondern für eine, die erst noch entstehen muss.“ – Ich, mit 9 Jahren, auf dem Bett liegend, heimlich in den Himmel flüsternd Dies ist kein Ende – dies ist eine Schwelle. In meinem nächsten Buch lade ich dich ein, tiefer zu blicken: in die Institutionen, die mich prägten, in die Räume, in denen mein Schmerz archiviert wurde, in die Mechanismen der Anpassung und die Rituale des Überlebens. Du wirst mein Herz sehen – in all seiner Zerrissenheit, seiner Würde, seiner Wut. Und du wirst fühlen: Ich habe nicht überlebt, um schweigend zu heilen. Ich schreibe, um zurückzufordern. Denn Heilung beginnt dort, wo Sprache aufhört, Ausreden zu machen – und anfängt, Wahrheit zu sprechen

Point of View

Perspektiven von Careleaver*innen

Point
of View